Alpenüberquerung E5 Teil I Oberstdorf - Kaunergrathütte (3. - 11. August 2019)

Langsam, aber zügig - auf dem E5 durch das Land der Zirben von Oberstdorf bis ins Pitztal

1. Tag: Von Spielmannsau bei Oberstdorf zur Kemptner Hütte

Seit der Arbeitgeber meiner Frau ihr ein Abonnement im Sportstudio bezahlt, ist die Beste aller Ehefrauen wie umgewandelt und auch kaum noch wiederzuerkennen. „Du, schau mal, Ralf, mit dem Alpenverein kann man auf dem E5 die Alpen überqueren … das würde Dir gut tun!“

Nun habe ich während einer langen und folgenlosen Karriere als Clown in der chemischen Industrie tatsächlich etwas angesetzt. Und deswegen bin ich jetzt hier, in Spielmannsau, und habe die Alpen noch vor mir. Zum Überqueren.

Der Wanderleiter ist sehr sympathisch und eine große Hilfe. „Es ist ganz leicht! Du musst nur wollen!“ Ich denke über das Spannungsverhältnis von „müssen“ und „wollen“ nach. Dann geht es los. Es ist wirklich ganz leicht: Ich gehe einfach hinter meinem Vordermann und achte darauf, nicht zurückzufallen. Es geht nur bergauf! Nach einer Stunde schaue ich auf den Höhenmesser (natürlich ein Smartphone). Wow, so viele Höhenmeter habe ich noch nie in einer Stunde geschafft! Wir unter(!)queren ein Schneefeld und kommen etwas später an der Kemptner Hütte an. War doch ganz leicht. War aber auch nur ein Nachmittag.

2. Tag: Von der Kemptner Hütte zur Memminger Hütte

Wir steigen zum Madelejoch auf und betreten das sichere Österreich. „Bélla geránt alii, tu félix Áustria nube." (Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate!) Im Lechtal unter uns liegt Holzgau, und da laufen wir hin.

Vor Holzgau hat die Europäische Union noch eine Hängebrücke für Fußgänger über die Höhenbachtalschlucht gebaut. Einfach so - eine Mords-Gaudi! Das wackelt und schwingt, einige entgegenkommende Fußgänger klammern sich verzweifelt an das Handseil. Wir hingegen begehen sicheren Schrittes die Brücke. Etwas mulmig ist mir schon, denn durch das filigran ausgeführte Bodengitter sehe ich direkt unter mir den Höhenbach fließen, in 110 m Tiefe!

Ab Holzgau sparen wir uns mit dem Linien-Taxi etliche Kilometer Landstraße. Dann steigen wir zur Memminger Hütte auf.

Der Wanderleiter hat mich mittlerweile eingeladen, direkt hinter ihm zu laufen. Wahrscheinlich, damit er uns nicht versehentlich wegläuft. Denn, was für den Wanderleiter langsam ist, ist für mich eher zügig. Ich habe nichts dagegen. Es läuft sich an dieser Position wirklich besser, weil der Wanderleiter wie ein Uhrwerk die Geschwindigkeit hält und auch den besten Weg findet. Und besonders beeindrucken mich die gestrickten rot-grünen Wadenwämer. Die sind schmuck (altes Wort für „cool“).

Auf der Memminger Hütte treffen wir auf unsere erste Zirbe, in Form eines Zirbenschnaps. Die Zirbe sollte uns ab jetzt auf allen Hütten begegnen, manchmal sogar mehrere.

3. Tag: Von der Memminger Hütte zur Zamser Schihütte

Der Weg von der Memminger Hütte nach Zams ist wirklich sehr schön. Nach dem Aufstieg zur Seescharte ist das erste Drittel des Abstiegs zwar steil, aber man hat einen atemberaubenden Fernblick über die Alpen. Im mittleren Abschnitt geht es zur Erholung nur leicht bergab. Man geht durch einen wunderschönen, aufgeräumten Märchenwald mit Einkehr. Danach geht es am Rande des Zamser Lochs, einer beeindruckenden Schlucht, entlang. Dann sieht man auch schon die Häuser auf dem Talboden - in der Ferne.

Einer der Teilnehmer muht. Anfänglich hatte er in Abständen gejauchzt und gejodelt, aber das stieß auf Kritik in der Gruppe. Jetzt muht er. Das fügt sich ganz gut in die Landschaft und ihren Weideviehbestand ein und wird akzeptiert.

Aber insgesamt ging es an diesem Tag halt doch viele Höhenmeter bergab. Auf dem letzten Stück habe ich es in den Beinen und Knien gespürt, und meine Schritte wurden immer kürzer. Und wir wurden alle immer langsamer. Es machte dann wieder richtig Spaß, zügig auf dem Talboden durch Zams zu laufen, denn die Muskeln zum Aufsteigen haben sich ja den ganzen Nachmittag über ausgeruht, und dann mussten wir ja noch zur vollen Stunde die Venet-Seilbahn kriegen. Voll war am Ende nicht die Stunde, sondern die Bergbahn, aber sie ist eine Viertelstunde später wiedergekommen und hat uns bei einer zusätzlichen Fahrt doch noch abgeholt. Hinterher in der Zamser Schihütte haben wir Schrittzähler verglichen, und ein schlaksiger Bergkamerad wollte gar nicht glauben, dass ich fast doppelt so viele Schritte gemacht hatte wie er.

2 Zirben.

4. Tag: Von der Zamser Schihütte nach Neu Amerika

Morgens geben 2 Teilnehmer auf. So sportlich hätten sie sich das nicht vorgestellt. Darunter eine Frau, die beim Vortourenwochenende auf mich einen sehr sportlichen Eindruck gemacht hatte. Wenn die da mitläuft, dann schaffe ich es nicht, hatte ich damals in leicht verkürzter Logik befürchtet.

Heute regnet es, aber wir sind trotzdem lustig drauf. Von der Bergstation der Venet-Seilbahn mit ihrem weithin sichtbaren Gitternetzsendeturm steigen wir zur Glanderspitze auf. Es ist nass, kalt und windig, und wir entschließen uns, nicht über den Grat, sondern in seinem Windschatten über die Goglesalpe und die Larcher Alpe nach Piller und Neu Amerika zu laufen. Nach diesem Entschluss hörte der Regen sofort auf, und es wurde sonnig. Na ja, vor Piller hat es noch einmal geschüttet.

Wer sich gefragt hat, was „Neu Amerika“ ist: Es ist ein Hof, der 1880 von einem Rückkehrer aus Amerika gekauft wurde. Jetzt ist alles wie in einer amerikanischen dude ranch eingerichtet – „eine Guest Ranch in den Vereinigten Staaten, wo Städter (Dudes, Greenhorns) reiten und Cowboy spielen können“. Sogar mit einer Veranda, von der aus man den Pferden im Regen zusehen kann. Die Spare-Ribs sind amerikanisch groß. Man muss sie in die Finger nehmen und abknabbern, dann schmecken sie fantastisch, und es gibt echte Barbecue-Soße dazu. Und warme Duschen, ganz wie in Amerika. Und Zirbenschnaps.

5. Tag: Von Neu Amerika zum Wiesenhof

Wir steigen zur Aifner Alpe auf und von dort geht es auf dem Kaunertaler Panoramaweg weiter. Ein sehr schöner Weg ohne große Höhenunterschiede mit einer tollen Aussicht ins Kaunertal. Wir laufen aber eher zügig, weil für den Nachmittag Regen angekündigt ist. Im Wiesenhof gibt es ein edles Abendessen fast wie im Feinschmecker-Restaurant, mit einer gedruckten Menükarte. Keine Hähnchen.

Keine Zirbe, passt nicht zum Rotwein.

6. Tag: Vom Wiesenhof zur Verpeilhütte

Morgens liegt das Kaunertal noch unter den Wolken, während uns hier oben schon die Sonne bescheint.

Wir führen zuerst eine Tunnelwanderung durch: es geht mehr als einen Kilometer untertage in einem Stollen, der für die Wasserversorgung in Kaunerberg gebaut wurde, aber jetzt trocken liegt - bis auf die tiefen Pfützen. Es ist ziemlich dunkel, und auch meine Taschenlampe erzeugt nur einen trüben Lichtfleck. Letztes Jahr nachts auf dem Stromboli, da war sie doch stärker? Der Wanderleiter fragt mich, warum ich eigentlich eine Sonnenbrille im Tunnel trage. Mir geht ein Licht auf. Woran ein Wanderleiter alles denkt! Ich bin beeindruckt.

Dann dürfen wir den Dr. Angerer-Höhenweg begehen. Einmal, weil wir in den letzten Tagen geübt haben („Nur für Geübte!“) und zum anderen, weil der Weg heute Morgen nach einer wochenlangen Sperrung wieder freigegeben wurde.

Für mich war dies das schönste Wegstück der ganzen Woche. Ein schmaler Pfad, streckenweise mit einem Seil versichert. Zirben, Lärchen und Fichten säumen den Weg. Um uns herum Wiesen und Blümchen. Und ein beeindruckender Blick in die Tiefe des Kaunertals und in die Ferne. Nach Norden kann man den Eiffelturm an der Bergstation der Venetseilbahn kaum noch erkennen, so weit sind wir gelaufen. Im Süden sieht man die Weißseespitze im Schnee. Der Weg verläuft ohne große Höhenunterschiede - mit einer Ausnahme: an einer Stelle geht es in steilem Zickzack einige Hundert Höhenmeter aufwärts.

Vor mir auf dem Pfad liegt eine schwere Winkelschleifmaschine, ganz allein. Mir fällt zunächst auf, dass sie batteriebetrieben ist. Das ist selten, bei Maschinen dieser Leistungsstärke. Macht aber Sinn, mitten im Wald. Etwas später treffen wir die Männer, die heute Morgen das schadhafte Sicherungsstahlseil repariert haben, bei der Mittagspause. Die Unterhaltung der Höhenwege ist aufwändig und teuer, weil sie im Winter häufig durch herabfallende Steine oder Wegrutschen beschädigt werden.

Wir übernachten auf der Verpeilhütte, die den den Frankfurtern gehört. Sie ist neu renoviert und hat eine luxuriöse Dusche, gekachelt ähnlich des Gesteins der umliegenden Berge.

Eine Zirbe.

7. Tag: Von der Verpeilhütte zur Kaunergrathütte

Diese Etappe war für mich die schwierigste der Tour.

Wir legen jetzt die mitgebrachten Steinschlaghelme an. Zünftig sehen wir aus, wie echte Bergsteiger! Da werden die Nachbarn aber staunen, wenn sie die Bilder sehen. Schließlich kann man ja aus den Schutzmaßnahmen auf die Größe der Gefahr schließen.

Der letzte, steile Aufstieg zum Madatschjoch führte über eine Geröllhalde, bei der sich unter der ersten Lage Felsbrocken noch Eis befand. Dadurch ist man bei jedem Tritt auf einen Stein einen halben Schritt zurückgerutscht. In vielen Fällen haben sich auch weitere Steine gelöst und sind ein ganzes Stück die Halde hinuntergepurzelt. Jetzt heißt es, beim Zickzack der Gruppe über den Hang darauf zu achten, dass die Kameraden im hinteren Teil nicht in die Falllinie der am Anfang Laufenden geraten.

„Langsam, aber zügig bis zum Grat!“ sagt der Wanderleiter. Langsam sind wir sowieso. Langsam ist vorsichtig. Und zügig heißt, dass die Steinschlaggefahr umso größer ist, je länger wir herumstehen.

Ein langbeiniger, muskulöser Bergsteiger zieht an mir vorbei. „Ist ganz einfach, Du musst nur schnell genug gehen!“ Physiknote: Sehr gut. Wenn man bei jedem Schritt die schweren Steinbrocken schnell genug nach hinten ausstößt, kommt man zügig den Berg hinauf, auch ganz ohne Bodenhaftung.

Jetzt berechnen wir mal die dazu nötige körperliche Leistung. … Ist nichts für mich. Langsam ziehe ich mich am Sicherungsseil wieder ein Stück hoch.

Das Madatschjoch ist mit ca. 3000 m der Höhepunkt der Tour. Bei sonnigem Wetter haben wir eine phantastische Sicht. Hier hätte ich eine Zeitlang verweilen können, wer weiß, was der angebrochene Tag noch bringt.

Es beginnt der Abstieg zur Kaunergrathütte. Dann hört er unvermittelt auf. Vor mir geht es nicht mehr weiter. Eine Felskante. Ein schöner Ausblick. Frieden. Das einzige, was mich etwas beunruhigt, ist das Ende einer Leiter, das über die Felskante hinausragt.

Ich unterdrücke meine Reflexe aus einem früheren Berufsleben: Die Gefahrenstelle mit Flatterband absperren, und die Gerüstbauer mit dem Aufbau von 30 Höhenmeter Leichtbaugerüst beauftragen, gerne auch mit Baustellenaufzug, schließlich sollen die Rucksäcke ja auch runter. Das gilt alles nicht mehr, Gott sei Dank. Schließlich bin ich freiwillig hier, weil es mir Spaß macht, und nicht beruflich.

Der Wanderleiter ist plötzlich weg. „Zurückbleiben!“ hat er vorher noch gesagt, „damit keine Steine nachrollen. Und wenn aus der Tiefe ein Pfiff ertönt, nachkommen! In Gruppen von drei!“

Die Leiter ist gar nicht so schlimm. Aber sie hört mittendrin auf. Dann geht es über Tritte abwärts. Einige davon sind ziemlich weit auseinander. Ein echtes Abenteuer!

Unten angekommen, habe ich das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Schließlich kann man ja aus der Größe der Anstrengung auf die Bedeutung des Erreichten schließen, oder? Und dann laufe ich noch ein paar Meter weiter, um aus dem Steinschlagbereich zu kommen.

Die Kaunergrathütte ist sehr schön auf einer Felsnase gelegen. Obwohl modernisiert, hat sie doch noch den Charme ihrer 116 Jahre. Wir kommen im Nebenbau unter.

Die Attraktion und Versuchung sind die Hängematten, in denen man bequem liegend die umliegenden Gipfel und Gletscher betrachten kann. Aber wenn ich mich da hineinlege, komme ich so bald nicht wieder heraus. Und die Hängematten sind nicht bewirtschaftet.

Wir befinden uns in einem Zentrum der Zirben-Kultur. Nicht nur, dass es zwei verschiedene Zirben-Schnäpse gibt: den normalen und - auf Nachfrage - den guten, nein, es gibt auch ein Zirbenkissen und eine Schale mit Zirbenspänen, die ein feines Aroma ausströmen, irgendwie zwischen Jägermeister und Magenbitter, mit einer Herznote nach Badeschaum und in der Nase brombeerartig. Das letzte, was ich erblicke, bevor ich an diesem Tag die Augen schließe, ist die Holzverkleidung des Daches 40 cm über meiner Nase: Zirbenholz, ganz bestimmt.

8. Tag: Zur Erholung und freien Verfügung auf der Kaunergrathütte

Zur Erholung sind wir vormittags 300 Höhenmeter zu einem benachbarten See hinunter und wieder zurückgewandert. Es hieß, in der Nähe des Sees habe eine Mure den Weg zerstört. Dort in der Gegend konnten wir den Weg nicht so richtig identifizieren. Die Mure war auch schon wieder weg. Der Strom der Wanderer hatte sich einen Trampelpfad zu einem weiter unten sichtbaren Wegstück gebahnt, völlig unreguliert und ohne Markierung. Der Wanderleiter wird die Stelle zur Erneuerung der Markierung weitermelden.

Zurück auf die Hütte kam ich etwas verspätet, so dass ich vom feierlichen Berggottesdienst nur noch das Ende mitbekam. Die Liturgie wurde von einer Blaskapelle unterstützt. Die schwere Tuba hat der nette Hubschrauberpilot, der sowieso einen Abstecher zur Kaunergrathütte gemacht hat, einfach noch unten dran gehängt. Die leichteren Instrumente mussten die Musiker selbst auf dem Steig nach oben tragen. Die Predigt soll anspruchsvoll gewesen sein. Das wurde mir vom Pfarrer selbst beim Abendbrot versichert, bei einer Zirbe.

Überhaupt sind die Mahlzeiten auf der Kaunergrathütte ganz große Küche, obwohl (oder weil) alle Zutaten mit dem Hubschrauber gebracht werden müssen.

9. Tag: Nach unten!

Mit etwas Wehmut verlassen wir die romantische Hütte und laufen zügig ins Pitztal hinunter. Auf halber Strecke werden wir von drei jungen Frauen überholt. Gazellen gleich und mit affenartiger Geschwindigkeit springen sie von Stein zu Stein. Trail running ist kein Sport, sondern Akrobatik. Ein Viertelstunde später kommen drei junge Männer nachgelaufen, natürlich ebenso graziös. Sehr ritterlich von den „Burschen“ - so werden junge Männer hier genannt - den Frauen so viel Vorsprung zu lassen! Oder vielleicht haben sie das gar nicht? Ich komme ins Grübeln. Heutzutage…

Dann Sammeltaxi, Bahnhof, Umsteigen, Mainz.

Nächstes Jahr laufe ich wieder mit. Der 2. Teil soll leichter sein. Ich muss nur wollen…

Text: Ralf Kästner