„Das Beste“ im Allgäu (6. - 14. Juli 2019)

Oft liegt die fern verortete Schönheit in der Nähe. Das Allgäu ist so ein Juwel vor unserer Haustür. Als ich zum ersten Mal von der Fidere Passhütte zur Fidere Scharte hochstieg und sich dort oben die Sicht auf die Gipfel des Allgäuer Hauptkammes eröffnete, war ich verblüfft ob so vielfältiger montaner Schönheit. Ein Bergsteiger neben mir rief: „Da sind wir mit einem Billigticket mitten im Paradies gelandet.“ Wir mussten tatsächlich keine Fernreise buchen, um dieses überwältigende Panorama zu erleben.

Martin vom DAV Mainz hatte die Tour „Best of Allgäu“ ausgearbeitet und ausgeschrieben, da musste man zugreifen. Elli hatte just ihre Wanderleiterprüfung abgelegt und unterstützte die Gruppe hervorragend. Wir stiegen im Hotel Gemma in Hirschegg (Kleinwalsertal) ab und ließen uns die Tour am Abendtisch durch den Kopf gehen. Regen war für die nächsten Tage angesagt. Einige Gipfel werden bei schlechtem Wetter nicht zu besteigen sein, war der erste Kommentar des Leiters. Alternativen wurden schnell gefunden, ein Plan B, mit dem jeder zufrieden war.

Am nächsten Morgen fuhren wir mit der Ifen-Seilbahn bis zur Mittelstation, um Zeit zu sparen, denn am Nachmittag sollte das Wetter umschlagen. In zweieinhalb Stunden waren wir oben auf dem Hohen Ifen (2.229 m). Einige kleinere Schneefelder mussten wir vorher queren, an Seilversicherungen hochklettern, und auf dem Ifenplateau begann es schon zu regnen. Wind kam auf, also volle Regenmontur an. Seltsam: Die Sicht nach Nordwest war frei, bis zum Bodensee in der Ferne. Und gleich vor uns, an der Abbruchkante des Ifenplateaus, war der Gottesacker zum Greifen nah. Ein verkarstetes Gelände, mit scharfkantigen Schratten, Schächten und Dolinen übereinandergeschichtet, faszinierend und bedrohlich zugleich und im Südosten die dunklen Wolken. Der Abstieg zur Ifersguntalpe (1.751 m) ging steil und hart an der Abbruchkante bergab über Geröll und Holzschwellen an Seilversichrungen; dann über schmierige Felsplatten, über Tonmergelgestein in flachere Moorpassagen. Im Nieselregen hatten wir trotz allem noch etwas Zeit die Vegetation zu erkunden: spät blühende Alpenrosen glühten aus hartem Blattwerk hervor, Gold-Pippau, punktierter, gelber und purpurner Enzian, gelb-violette Alpenastern, zierliche Soldanellen, alles miteinander verwoben von den Fäden des Schnürlregens. Schwarz glänzende Alpensalamander verlassen bei Nässe ihre Erdlöcher. Die kopulierenden Lurche winden sich auf den flachen Wanderwegen. Hier ist Vorsicht geboten: Naturschutz geht vor.

Wir gönnten uns auf der Ifersguntalpe eine längere Pause, tranken vom Holunder-Joghurt des Hauses und probierten den Ziegenkäse. Das junge Sennerpaar und ihre Kinder auf einsamer Alm – ein seltenes Idyll: „Es passt. Wir fühlen uns gut hier, weit weg vom Trubel.“ Bis zur Schwarzwasserhütte (1.651 m) ist es dann nur noch ein kleiner Spaziergang. Geplant war am Folgetag der Aufstieg zum Steinmannel (1.991 m), die Überquerung zum Grünhorn (2.039 m) und dann die Kammwanderung bis zur Güntlespitze. (2.092 m) mit anschließender Querung zur Widdersteinhütte (2.009 m). Wir hatten Pech: Wieder setzte der Regen ein. Wir schafften noch die Kletterpassage zum Grünhorn, dann aber entschieden wir uns zum Abstieg auf einfachen Wegen nach Baad und erneutem Aufstieg bei stärker werdendem Regen über die Bärgunt-Hütte zum Tagesziel. Auf der Widdersteinhütte das übliche Gewusel, jeder will seine Klamotten trocken bekommen. Ein Teil unserer Gruppe entscheidet sich, morgens um 5:00 Uhr zum großen Widderstein (2.533 m) aufzubrechen. Werden die Wolken am Gipfel für einen Augenblick die Sicht freigeben? Diesmal musste ein kleines Schneefeld überquert werden. Steigeisen wurden sicherheitshalber angelegt. Dann immer wieder kleinere leichte Kletterpassagen. Der ersehnte Weitblick blieb leider aus. Nach dreieinhalb Stunden gab es für die Frühaufsteher ein belohnendes Frühstück auf der Hütte.

Ein langer Weg bis zur Rappenseehütte stand uns noch bevor. Das Wetter versprach besser zu werden. Zuerst ging es über die Obergemstelalm am Geißhorn vorbei zum Punkt 156. Zwei Tierfilmer hatten ihre Kamera am Hang aufgestellt, um Murmeltiere einzufangen. Wir liefen ihnen vors Objektiv und ihr „Filmauge“ verfolgte uns eine ganze Weile auf unserem Weg.

An der verlassenen Trifthütte stieg der Weg hoch zum Haldenwanger Eck (1.931 m), dem südlichsten Punkt Deutschlands mit den Koordinaten 47°16‘12,4‘‘N 10°10‘41,9‘‘O. Eine Tonnensäule markiert den Punkt, wo drei Länder aufeinandertreffen: Bayern, Vorarlberg, Tirol. Dann ging‘s über den Gehrner Berg immer hart an der Grenze bei ordentlich Nebel durch sehr steiniges löchriges Gelände bis zum Schrofenpass (1.688 m), schließlich am Biberkopf (2.599 m) vorbei und über die Obere Biberalm, wo wir an der verlassenen Almhütte eine Pause einlegten. Vor dem steilen Anstieg zur Rappenseehütte galt es noch den Mutzentobel zu überqueren. Die Eisdecke trug. Der Wasserlauf war gänzlich bedeckt mit Schnee und Eis. Der versicherte Zustieg und dann der Aufstieg auf der gegenüberliegenden Seite war eine richtige Matschpartie (Gehzeit sechs Stunden).

Endlich ein Sonnentag! Wir stiegen gemeinsam mit sehr vielen Leuten auf zum Heilbronner Höhenweg und hatten eine wunderbare Sicht auf die Gipfel des Allgäu. Ein Abstecher zum Hohen Licht (2.651 m) bot sich an. Zwei kleine Schneefelder schreckten den großen Pulk der Wanderer ab. So konnten wir die Bergwelt genießen und waren auf dem weiteren Weg später sogar fast allein unterwegs. Weitblick zum Hochvogel (2.592 m), zur Öfnerspitze (2.578 m), zum Großen Krottenkopf (2.656 m) und dann die hintereinander gereihten Gipfel der Trettach (2.595 m), der Mädelegabel (2.645 m), die Hochfrottenspitze (2.649 m) und der Bockkarkopf (2.609 m). Alles war gestochen klar, fern und doch zum Greifen nah. Über den Heilbronner Höhenweg ging es bis zur Bockkarscharte, mit anschließendem Abstieg zum Waltenbergerhaus (2.083 m). Wir stellten fest: Es gibt in diesem Jahr viel Schnee in den Höhenlagen. Beim Abstieg übers Vordere Bockkar gab es einen Rückstau: Ein größerer, steiler Schneehang musste im Abstieg überwunden werden. Unsere Guides hatten alles im Griff. Unsere Gruppe und alle, die bislang hier nicht absteigen konnten bzw. Probleme hatten, kamen sicher ans Ziel. Dafür gab’s im Waltenberger Haus eine fröhliche Runde und einen beeindruckenden Sonnenuntergang über den Schafalpenköpfen.

Dann, am nächsten Tag, führte der Weg wieder hoch zur Bockkarscharte. Diesmal zogen wir im oberen Schneefeld wegen der Kühle die Steigeisen an. Es ging weiter zur Kemptner Hütte, vorbei am Allgäuer Dreigestirn. Leider hatte sich der Himmel wieder zugezogen. An eine Besteigung der Mädelegabel war nicht zu denken. Der Schwarzmilzgletscher zeigte sich in voller Ausdehnung, wo sonst um diese Jahreszeit nur Reste zu sehen sind. Nochmals ein Blick in die Felswände: Steinböcke hatten sich oben versammelt und verfolgten gleich von mehreren Seiten unseren Abstieg - teils aufmerksam teils gelangweilt. Am Kratzerjoch stießen wir dann nochmals auf harschen Schnee in steilem Gelände. Elli schlug uns mit dem Pickel einige Trittstufen in den Firn, sodass wir sicher queren konnten. Es begann zu regnen und wir trafen auf die ersten E5 Wandergruppen von der Kemptner Hütte kommend, die über das Mädelejoch nach Holzgau im Lechtal zogen.

Nach zwei schöneren Tagen verfolgte uns nun wieder der Regen, sodass die letzte Hütte, das Edmund-Probst-Haus, nicht über den langen Gratweg besucht wurde, sondern eher gemütlich über das Tal mit Unterstützung von Bus und Nebelhornbahn.

Wir wollten das Allgäu erleben. Freilich, wer die Berge erlebt, erlebt letztlich auch sich selbst. Das haben wir auch bei dieser Tour bestens erfahren.

Text: Wolfgang Gottschick